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Interview mit Uli Margies

Interview von: Sabine Spieler - Text und Trend

Sie waren erfolgreicher Manager in der Werbebranche. Wie kommt es, dass Sie jetzt als Medical Fitnesstrainer für orthopädische Beschwerden arbeiten?

Als Geschäftsführer einer Werbeagentur hatte ich den üblichen Manager-Marathon. Meetings, Konferenzen, dazwischen Zigaretten und Schokoriegel, und immer die Deadlines im Nacken. Abends nach Feierabend gab’s dann um 22 Uhr Pizza vorm Fernsehen. Plötzlich ging nichts mehr, und zwar vom einen Tag auf den anderen. Ich hatte Schwindel, Rücken-, Knie- und Hüftprobleme, fühlte mich elend, das volle Programm. Es wurden zig MRTs gemacht, doch die Ärzte konnten nichts diagnostizieren. Irgendwann wurde mir klar, dass das Problem von ganz woanders herrührt.

Nämlich?

Heute würde man das Burnout nennen, aber damals vor 20 Jahren war die Medizin noch nicht auf dem Wissenstand von heute. Um wieder fit zu werden, fing ich an, funktionelles Bodyweight-Training durchzuführen, damals ein ganz neues ganzheitliches System, das sehr schnell zur Verbesserung der Situation führte. Ich war so froh, meinen Körper wieder zu spüren und habe dann beschlossen, meine Erkenntnisse und persönliche Erfahrungen zum Beruf zu machen, um nicht wieder in das alte Hamsterrad zurückkehren zu müssen.

Das heißt. Sie haben ein zweites Studium abgeschlossen?

Genau. Ich habe Personal Fitness Training an der IST Akademie Düsseldorf studiert, parallel dazu belegte ich begleitend ein Fernstudium im Schwerpunkt orthopädische Beschwerden am Glucker Kolleg Stuttgart, das zu den renommiertesten Ausbildungsstätten für Trainer in Deutschland zählt. In dieser Zeit entdeckte ich mein Talent, orthopädische Beschwerdebilder zu erkennen und diese konservativ durch Training der Muskelketten zu beseitigen.

Was meinen Sie mit konservativ?

Ich arbeite mit einem ganzheitlich angelegten Trainingssystem, das den Körper durch Korrekturen der Muskulaturzüge und der Faszien in die ursprüngliche Ansteuerung der Sehnen und damit der Knochen und Gelenke zurückführt. Orthopädische Beschwerden haben dadurch die Möglichkeit, komplett und nachhaltig abzuheilen.

Verstehe ich Sie richtig, dass Sie Beschwerden komplett wegtrainieren, die dann im Idealfall auch nie mehr zurückkommen?

(lacht). Wenn Sie konsequent trainieren, ja. In meiner Zeit als gestresster Werber wurden mir pausenlos irgendwelche Schmerzmittel zur Symptombekämpfung verschrieben. Diese Praxis ist leider immer noch viel zu häufig der Fall, wenn die Diagnose nicht eindeutig ausfällt. Die Ursache bleibt jedoch oft unerkannt. Genau das ist mein Ansatz. Mein Training verfolgt das Ziel, orthopädische Beschwerden ursächlich zu beseitigen. Dafür braucht es einen ganzheitlichen Ansatz. Das ursprüngliche System kommt aus dem internationalen Leistungssport und wird seit mehr als 25 Jahren auch in Deutschland in den Top-Ligen angewandt. Ich habe es weiterentwickelt für Menschen mit sitzenden Berufen wie zum Beispiel Managern, Unternehmern oder Privatiers, die meist über 50 sind. Das ist erfahrungsgemäß die Zielgruppe, die am häufigsten unter starken muskulären Dysbalancen und den damit verbundenen Beschwerdebildern wie Verspannungen, Rücken-, Hüft- oder Knieproblemen leiden.

Können Sie das anhand eines Bandscheibenvorfalls erklären?

Erst einmal geht es darum herauszufinden, woher die Symptome überhaupt kommen. So ein Bandscheibenvorfall entsteht nicht von einem Tag auf den anderen, das ist ein Prozess, der sich oft über Jahre hinweg aufbaut. Da kommt vieles zusammen. Falsche Körperhaltung, wenig oder einseitige Bewegung, Stress. Man weiß heute, dass die Muskulatur für einen Großteil von orthopädischen Indikationen verantwortlich ist. Das hängt damit zusammen, dass die Muskeln nicht allein arbeiten, sondern durch den ganzen Körper vorder-, rückseitige und seitliche Muskulaturketten laufen, die dann – jetzt mal vereinfacht gesagt - über die Sehnen die Kraft der Muskulatur auf Gelenke und Knochen übertragen.

Und was heißt das jetzt übersetzt auf unseren Fall?

Dass wir gleichmäßig aufgebaute Muskulaturketten brauchen, die Gelenke und Knochen positionieren und entsprechend ausgewogen ansteuern. Nur leider klappt das bei den wenigsten. Die meisten Bandscheibenvorfälle basieren auf einer Fehlansteuerung der Wirbelsäule, die durch eine falsche Körperhaltung entsteht. Meist handelt es sich um eine selbstverschuldete Haltungsschwäche, ausgelöst durch zu wenig oder falsche Bewegung. Die meisten Menschen sitzen zu viel, das führt zu Verkürzungen der Muskulaturen, oder führen einseitige Sportarten wie Tennis oder Golf durch, die Fehlhaltungen ebenfalls begünstigen. Die Abstände der Wirbelkörper verengen sich, die dazwischen liegenden Bandscheiben geraten unter Druck. Es kommt zu einer Vorwölbung der Bandscheibe oder im schlimmsten Fall zu einem akuten Prolaps, wo die die Bandscheibe zerstört wird.

Das heißt, die meisten orthopädischen Probleme entstehen durch Fehlansteuerung der Muskulaturzüge auf die Knochen und Gelenke?

Genau. Wenn die Knochen falsch angesteuert werden - oder noch schlimmer die Gelenke oder Wirbelkörper, dann fangen diese an sich zu verschieben. Nehmen wir eine Kniearthrose. Da kommt es zu einer Schiefstellung der Knorpelstellung im Kniegelenk, und wenn die Muskulatur dann auch noch zu schwach ist, das Gelenk zu entlasten, fangen die Knorpel irgendwann an sich zu berühren. Es kommt zu Entzündungen des Sehnenapparates, die Kollateralbänder werden instabil und letztendlich folgt die Arthrose, der Knorpel wird zerstört.

Wo liegt der Unterschied zwischen Ihrer und einer herkömmlichen Therapie bei orthopädischen Problemen?

Die klassische Therapie ist oft zu kurz gedacht. Nehmen wir das Beispiel Schmerzen in der Schulter. Da wird lokal an der Schulter gearbeitet, die Schulter wird mobilisiert und mit Spritzen aufgepeppt, und irgendwann funktioniert sie dann auch wieder für einige Zeit. Das Problem ist damit jedoch immer noch nicht beseitigt, weil keine Korrekturen der Schulter- und Körperhaltung, sondern nur eine Beseitigung der Entzündungen in der Schulter vorgenommen wurde, nicht aber eine Korrektur der beteiligten Muskelzüge- und Ketten und damit eine Repositionierung der Schulterstellung. Meist kommen die Schmerzen dann irgendwann wieder zurück. Das Training ist ein entscheidendes Element im Heilungsprozess.

Bei Rückenproblemen sagt man ja, dass dahinter auch oft psychische Themen stecken.

Erfahrungsgemäß muss man jedes Problem ganzheitlich betrachten. Bei massiven Rückenbeschwerden können psychische Probleme bis hin zum Burnout eine Rolle spielen. Auch Unfälle, die früher vorgefallen sind, können mit reinspielen. Sie bedingen oft auch eine Dysbalance, die der Körper sich angeeignet hat und die im Laufe der Jahre zu Symptomen führen. Das sind Faktoren, die bei einem Leiden oft nicht in Betracht gezogen werden. Viele meiner Patienten sind von einem Therapeuten zum nächsten gerannt. Wenn man Glück hat, führt es am Ende zu einer Diagnose, die auf einer ganzheitlichen Sichtweise basiert. Das ist aber eher selten der Fall, auch bedingt durch zu kurze Diagnosezeiten beim Arzt. Zu oft endet es dann in der Medikation, am Ende steht dann die Operation. Das ist immer noch der gängige Weg, der auch von den Krankenkassen immer noch häufig ohne zu hinterfragen bezahlt wird.

Das klingt nicht so, als seien Sie damit einverstanden?

Wir sagen, dass über 90 Prozent aller orthopädischen Symptome eine Ursache haben. Bei uns starten wir das postrehabilitative Training prinzipiell mit einer gründlichen Anamnese, die gut 60 Minuten oder mehr dauert, je nach Beschwerdebild. Dabei kann ich die orthopädischen Indikationen aufgrund von muskulären Dysbalancen, historischen Problemen wie Unfällen oder Operationen festmachen und dem Kunden anschließend erklären, wie es zu dem Problem kam und wie es beseitigt werden kann. Das ist für mich die Basis einer ganzheitlichen Therapie.

Wie muss ich mir so eine Anamnese vorstellen?

Wenn ich weiß, ob der Patient viel sitzt, ob er Sport macht oder sein Sportprogramm zu einseitig ist, weil er nur Tennis spielt oder joggen geht, frage ich auch nach internistischen Problemen wie Magen-Darmproblemen, Diabetes Typ 2, Cholesterinwerten oder Bluthochdruck. Auch Adipositas spielt eine große Rolle. In dem Zusammenhang kommen wir auch auf die Ernährung zu sprechen. Im nächsten Schritt schaue ich mir die Haltung des Patienten an, wie mobil er ist und ob er bestimmte Bewegungsmuster überhaupt noch ausüben kann. Die meisten Menschen haben Beschwerden mit über 50, weil sie im Laufe ihres Lebens viele in der Kindheit erworbene Bewegungsmuster verloren haben. Das hängt damit zusammen, dass die meisten von uns einfach viel zu viel sitzen und sich auf wenige Bewegungsabläufe in ihrem Leben reduziert haben. Das führt zu einer eingeschränkten Mobilität, der Kunde bewegt sich oft schleppend durch den Tag.

Ok, die Anamnese steht. Was folgt dann in Ihrem Training?

Wenn ich alle Informationen zusammen habe, geht es im nächsten Schritt um die Schmerzbeseitigung, im nächsten dann um den gezielten Muskelaufbau und die Korrekturen der Muskulturzüge und der Faszien. Dafür muss der Patient aber erst einmal schmerzfrei sein. Das Training kann erst stattfinden, wenn der Patient keine Schonhaltung mehr hat, sonst werden die falsch angesteuerten Muskulaturen weiter gestärkt, und die Indikationen verschlechtern sich.

Wie lange lässt es sich mit einer falschen Haltung denn beschwerdefrei leben?

Bei den meisten Menschen gehen die ersten orthopädischen Zipperlein in den 40ern los. Das hängt damit zusammen, dass sich jede Schonhaltung im Laufe der Jahre multipliziert. Wenn dann eine Operation, ein Unfall oder Knochenbrüche dazu kommen, nimmt der Muskelschwund rasant zu. Durch das Laufen mit Krücken wird der Körper zu einer Schonhaltung gezwungen, und durch die falsche Ansteuerung der Muskulaturen kommen neue Fehlhaltungen hinzu. Das ist wie ein Dominospiel: Die Ketten übertragen die Fehlhaltung vom oberen Rücken auf den unteren Rücken, von da auf die Hüfte und weiter auf die Kniegelenke, und irgendwann fangen die Gelenke und Sehnen an zu kollabieren.

Inwiefern kollabieren?

Irgendwann fangen die Gelenke oder der Sehnenapparat an, sich zu entzünden oder noch schlimmer kaputt zu gehen. Das bedeutet meist starke Schmerzen mit einhergehenden Einschränkungen der Mobilität. Dadurch bauen sich Knorpelstrukturen und Muskulaturen ab, was zu weiteren Schonhaltungen führt. Man geht zum Orthopäden, zur Physio, das volle Programm. Ich habe Kunden, die in zehn Jahren fünf oder sechs verschiedene orthopädische Indikationen durchlaufen haben, ohne Verbesserung, mit komplett unterschiedlichen Behandlungen, obwohl alle Indikationen einen zusammenhängenden Ursprung hatten.

Einen anderen wichtigen Teil Ihrer Arbeit liegt auf Faszientraining. Was hat es damit auf sich?

Gerade in den letzten Jahren hat man in der Sportwissenschaft festgestellt, dass Faszien eine direkte Auswirkung auf die Bewegungsmechanik der Muskulatur haben. Faszien sind teils kleinteilige Mikrostrukturen, die Muskulaturen umschließen und quasi den Körper wie ein Flechtwerk durchziehen. Sie können Schmerzen auslösen, wenn sie mit den Muskelfasern verkleben. Die Faszie ist verantwortlich für die Bewegungsqualität der Muskulatur. Faszienverklebungen entstehen durch falsche Ansteuerung der Muskulaturen, verklebte Faszien sorgen dafür, dass sich der Muskel lokal nicht mehr bewegen kann. So entstehen Schmerzen, die oft diffus sind, wie es bei Rückenschmerzen häufig der Fall ist. Diffuse Schmerzbilder sind meist schwer zu diagnostizieren.

Was muss man sich unter diffusen Rückenschmerzen vorstellen?

Es gibt Schmerzen, die werden so übermächtig und flächig, dass man nicht mehr genau weiß, wo man suchen soll, um den tatsächlichen Auslöser zu finden. In der Regel gibt es aber zweierlei Schmerzarten: Nerven- oder Faszienschmerzen und Schmerzen, die durch Entzündungen entstehen. Bei einem Bandscheibenvorfall kann es sein, dass die Schmerzindikation über die Faszien kommt, weil diese kleinteiligen Bindegewebsstrukturen verkleben und sich dann irgendwann entzünden. Diese Verklebung nennt man auch Triggerpunkte, also schmerzempfindliche Punkte. Wenn man da draufdrückt, kann es sein, dass Sie an die Decke gehen vor Schmerz. Meist paaren sich diese Schmerzen auch mit weiteren Entzündungsschmerzen, die man ebenfalls angehen muss.

Der ganzheitliche Ansatz klingt plausibel. Was, wenn ich wirklich akute Schmerzen habe?

Wenn eine Entzündung chronisch oder extrem schmerzhaft ist, sollte man sich vom Arzt einen Entzündungshemmer verschreiben oder in Extremfällen eine Cortison-Spritze verabreichen lassen. Einen Entzündungsschmerz erkennt man an einer dauerhaften Schmerzsituation. Wärme oder Hautrötungen sind oft begleitende Indikationen. Cortisonspritzen sind mit aber Vorsicht zu genießen, da diese zu Sehnenverhärtungen oder sogar zum Sehnenriss führen können. Extrem wichtig ist, dass sich kein Schmerzgedächtnis bildet, deshalb plädiere ich immer für frühzeitig zu handeln. Sobald man die Entzündung bzw. den Schmerz im Griff hat, kann man in einem nächsten Schritt die Fehlansteuerung beseitigen, die die Entzündung ausgelöst hat.

Warum wird in Deutschland überdurchschnittlich oft bei orthopädischen Vorfällen operiert?

Sagen wir mal so: das Krankensystem hat eine jahrzehntelange Systematik. Da spielen sehr viele Faktoren eine Rolle. Ich behaupte jetzt einfach mal, dass in den meisten Fällen mit einem sporttherapeutischen Gesamtkonzept eine Operation nicht notwendig wäre. Mein Training kann man sogar von zu Hause machen. Seit der Pandemie biete ich dazu auch Online-Training 1:1 im Homeoffice an.

Haben sich die orthopädischen Beschwerden durchs Homeoffice verstärkt?

Definitiv. Aber schlechter Bürostuhl hin oder her. In der Regel sind sie nur der Verstärker einer Grundproblematik, die bereits in den Patienten steckt.

Aber macht es nicht Sinn, in einen guten Schreibtischstuhl zu investieren, wenn man viel sitzt?

Auf jeden Fall. Ich empfehle immer einen Stehtisch oder einen verstellbaren Tisch. Mit einer instabilen Unterlage kann man während des Arbeitens sogar stehend am Tisch seine Tiefenmuskulatur trainieren. Die Tiefenmuskulatur stabilisiert die Wirbelsäule und die Gelenke, ist also für den Heilungsprozess und Prävention enorm wichtig.

Warum heißt es heute: Sitzen ist das neue Rauchen?

Durch das Sitzen verkürzen und verschlechtern sich vor allem die Oberschenkel- und Rückenmuskulatur. Die dabei gekrümmte Rückenhaltung führt zu einer Fehlansteuerung der gesamten Muskulaturkette, die sich gerne im unteren Rücken bemerkbar macht. Eine schwache Bein- und Po-Muskulatur ist ebenfalls verantwortlich für Rückenschmerzen, da das Becken verkippt und dadurch vor allem Rücken- und Rumpfmuskulatur in Mitleidenschaft gezogen werden. Eine falsche Beckenstellung ist auch verantwortlich für internistische Probleme, wie zum Beispiel einer Funktionsstörung des Magen-Darm Traktes. Das wissen die wenigsten. Und natürlich verkleben in Folge die Faszien, Muskulaturen verhärten sich, das Spiel beginnt.

Gibt es eine Empfehlung, wieviel Prozent man als Büromensch sitzend und stehend am Schreibtisch verbringen sollte?

Ich empfehle, wenn möglich nach zwei Stunden eine kleine Pause zu machen – oder wenigstens ab und zu mal die Haltung zu ändern oder vielleicht ein paar Schritte zu gehen. Inzwischen gibt es ja auch ganz moderne Büros mit Stehmöglichkeiten, so dass man sich nur den Rechner unter den Arm klemmen muss, wenn man mal nicht mehr sitzen und mal den Platz wechseln möchte. Das ist eine gute Sache, denn damit sind die Leute nicht immer in derselben Kette und damit in derselben Fehlhaltung.

Warum heißt es, Sport wird wichtiger, je älter wir werden?

Weil der Körper im Laufe der Jahre verschleißt, ausgelöst durch einseitige Belastung und Minimierung des Bewegungsumfangs. Dann sind wir beim Thema Mobility. Ich hatte mal einen Rechtsanwalt als Kunden, der dieses Phänomen mit „Vergreisung“ beschrieben hat. Tatsächlich können Leute ab einem gewissen Alter, die vor allem sitzen und einseitige Bewegungen machen, irgendwann nur noch vier bis fünf Bewegungsabläufe schmerzfrei durchführen. Diese Einseitigkeit führt ab einem gewissen Alter zu einer starken Einschränkung der Beweglichkeit. Ich beobachte das oft schon bei Menschen, die zwischen 40 und 50 Jahre alt sind.

Aber würden Sie sagen, dass ein Mensch bis ins hohe Alter noch an seiner Mobilität arbeiten kann?

Also auch ich kann keine Wunder verbringen, aber wenn jemand noch in der Lage ist, mit 80 Jahren in meiner Praxis die Treppe runterzugehen, kann ich auch mit ihm arbeiten. Der entscheidende Punkt ist, mit den Kunden rechtzeitig an ihrer Fitness zu arbeiten, um zu vermeiden, dass sie im Alter Beschwerden entwickeln, die zu einem sehr unangenehmen Lebensabend oder noch schlimmer zum Pflegefall führen.

Warum kommen die meisten Menschen immer dann, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, das heißt die Beschwerden da sind?

Das kann ich an meiner eigenen Person festmachen. Meistens rutscht man da so rein. Durch meine sitzende Tätigkeit als Manager hatte ich immer Stress und mir einfach keine Zeit mehr für Sport genommen. Das hat zu einer absoluten Vergreisung meines damals 38-jährigen Körpers geführt. Ich bin förmlich durch die Stadt geschlurft. Irgendwann hat mich ein alter Freund angesprochen, was mit mir los sei, er habe mich fast nicht mehr wiedererkannt. Das war die Initialzündung. Ich war immer sportlich, aber habe im Laufe der Jahre gar nicht gemerkt, dass ich mich selbst kaputt gemacht habe. Leider verlieren wir die Bewegungsebenen, die wir als Kind intuitiv ausbilden. Die Bewegungsebenen entstehen in der Krabbel- zur Lauflernphase. Da zieht man sich als Kind locker an einer Teppichstange hoch, klettert auf einen Baum oder schlägt Purzelbäume. In der Schule fängt das Problem dann mit dem pausenlosen Sitzen an, das geht dann im Studium und später im Beruf weiter – und mit 40 oder 50 geht es dann in der Regel los, dass sich Körper beschwert und an Substanz verliert.

Warum sind die meisten Ihrer Patienten dann aber über 50?

Weil die ersten Symptome in den 40ern in der Regel erst mal ignoriert werden. Da wird gejoggt und plötzlich tut das Knie weh, aber da wird drüber hinweg trainiert. Ich erlebe sehr, sehr oft, dass Patienten die ersten Signale des Körpers ignoriert haben. Dabei kann man wirklich sagen: Schmerzen haben immer eine Ursache. Immer. Und man sollte sich dann die Zeit nehmen, die Ursache zu hinterfragen, wenn der Schmerz über einen längeren Zeitraum nicht besser wird. Denn sonst kommen die Entzündungen, besonders häufig beim Joggen in den Knien. Aber dann ist das Kind schon in den Brunnen gefallen.

Was halten Sie von Training im Fitnessstudio bei orthopädischen Indikationen?

Das ist ein wichtiger Punkt, den Sie da ansprechen. Wenn jemand Beschwerden hat, wird einem in der Regel empfohlen, Sport zu machen. Die meisten entscheiden sich dann für ein Fitnessstudio. Aber ich sage Ihnen ganz ehrlich und ich kann das beurteilen, da ich selbst jahrelang als Ausbilder von Trainern und Personal Trainern in Fitnessstudios gearbeitet habe - die meisten Studiotrainer haben von Gesundheitstraining keine Ahnung. Oft sind die Trainer als schlichte Geräteeinweiser. Wenn jemand mit orthopädischen Indikationen kommt, bedarf es definitiv eines Spezialisten. Ich erlebe immer wieder, dass Kunden zu mir kommen und sagen, dass ihre Beschwerden sich verschlimmert haben, seit sie im Fitnessstudio trainieren.

Wie kann das passieren?

Weil Sie automatisch in Ihre Fehlhaltung hinein trainieren. Ein Fitnessgerät ist vereinfacht gesagt ein Eisengestell, das so konstruiert ist, dass Bewegungen gleichmäßig und sauber ausgeführt werden können. Wenn Sie aber bereits mit einer schiefen Haltung an dem Gerät sitzen, führen Sie diese Bewegung auch gleichmäßig schief aus, nämlich in ihrer Schonhaltung. Ich bin kein großer Fan von Gerätetraining mit schweren Gewichten, gerade bei Rückenproblemen würde ich immer Training mit Körpereigengewicht bevorzugen.

Warum das?

Gerätetraining kommt aus dem Bodybuilding. Beim Bodybuilding geht es nicht um Gesundheit. Da geht es um dicke Muskeln, die später auf einer Bühne bewertet werden sollen. In der Sportakademie beschreiben wir diese Muskulaturbildung als nicht alltagsrelevant, weil ein Bodybuilder, der zum Beispiel ein Sixpack hat, nicht zwangsläufig in der Lage ist, sich aus einer liegenden Position mit Hilfe seiner Bauchmuskeln aufzurichten. Das hängt damit zusammen, dass die Muskeln zwar optisch vorhanden sind, aber nicht in Funktionsketten zusammenarbeiten, da sie isoliert trainiert werden. Wir arbeiten mit funktionellem Training, und das hat ein anderes Ziel. Hier geht es nicht darum, ein sichtbares Muskulaturdickenwachstum zu erzeugen, sondern eine funktionierende Muskelketten zu bekommen, die dafür sorgen, dass Sie schmerzfrei heben, werfen, laufen, springen können, ohne dass Ihr Körper kollabiert.

Würden Sie sagen, dass sich durch die Pandemie das Bewusstsein für körperliche Fitness verstärkt hat?

Absolut. In dieser Zeit haben viele Menschen realisiert, dass es nicht egal ist, wenn man internistische Beschwerden oder Übergewicht hat. Diese Menschen wurden plötzlich in der Politik als „vulnerable Gruppe“ bezeichnet, die extrem anfällig für Krankheiten oder Viren sind. Dazu wollte keiner gehören. Den Menschen ist durch Covid-19 klar geworden, dass man möglicherweise ein Problem bekommt oder im schlimmsten Fall sogar stirbt, wenn man vulnerabel ist. Seitdem ist das Bedürfnis, sich körperlich fit zu halten und gesund zu sein, massiv gestiegen, was mich natürlich sehr freut.

Ist das der Grund, warum Sie Ihr Angebot jetzt erweitern? Bis dato haben Sie ja vor allem an der Gesundheit von Managern 1:1 gearbeitet.

Tatsächlich haben mich einige Firmen angesprochen, wie sie mein Angebot an gesundheitlicher Prävention und Beseitigung akuter Beschwerden auf alle Mitarbeiter übertragen können. Wir hatten dann die Idee, die häufigsten Krankheitsbilder bei Büroangestellten in acht Kategorien zusammenzufassen, das sind Schulter- Nackenverspannungen, Schulterbeschwerden, Ellenbogen- und Handgelenkbeschwerden, Halswirbelsäulenprobleme, Brustwirbelsäulenprobleme, Lendenwirbelsäulenprobleme, und bei Hüft- und Kniegelenksbeschwerden und Sprunggelenk- und Fußproblematiken. Daraus ist die Idee der Lernprogramme entstanden, wofür wir derzeit eine App entwickeln. Das heißt, je nach Beschwerdesymptomen kann man sich sein Lernprogramm runterladen und dann zuhause bis zur Beschwerdefreiheit trainieren.

Wie muss man sich das vorstellen?

Es handelt sich um ein mehrwöchiges Programm mit leicht erlernbaren Übungen zur Instandsetzung der Faszien und Stärkung der Muskulaturen, mit Korrekturen des Halte- und Bewegungsapparates, die auf die acht der häufigsten Krankheitsbilder abgestimmt sind. Das Ganze basiert auf einer vorher durchzuführenden digitalen Anamnese und wird wöchentlich durch eine Evaluation begleitet, um die Fortschritte zu dokumentieren. Die Firmen erhalten durch eine anonyme Datenrückmeldung ein auszuwertender Status des Krankenstands. Das sorgt nicht nur für zufriedene und motivierte Mitarbeiter, sondern senkt auch enorm die Kosten, die durch Krankheitstage entstehen.

Beim Thema ganzheitlicher Ansatz sind wir auch bei dem Stichwort Ernährung. Ist in dieser App auch ein Beitrag zum Thema Ernährung vorgesehen?

Ja, denn das gesamte System basiert ja nicht nur auf orthopädischen Indikationen, Fitness, Mobilität. Faszien und Schmerztherapie, sondern auch auf Ernährung, die pragmatisch und einfach umgesetzt werden sollte, um zu funktionieren. Man lernt, was eine falsche Ernährung im Körper anrichtet. Ich schreibe niemanden vor, was man zu essen hat, denn das funktioniert nicht. Es geht vielmehr darum zu verstehen, wie die körpereigenen Stoffwechsel funktionieren und durch die richtigen Lebensmittel optimiert werden. Man erwirbt das Wissen selbst zu beurteilen, welche Lebensmittel für einen persönlich geeignet sind. Ich erkläre, wie damit individuelle Ziele wie zum Beispiel eine Gewichtsreduktion zu erreichen sind.

Verraten Sie uns noch ein paar Grundregeln, worauf man im Alltag achten sollte, um Fehlhaltungen zu vermeiden?

Also das erste was ich jedem rate, ist bei der Handynutzung das Sichtfeld auf Augenhöhe zu bringen, um die Halswirbelsäule zu entlasten. Wer viel am Tablet arbeitet oder abends auf dem Sofa noch gerne seine Emails checkt oder auf chattet, belastet durch dieses permanente Herabschauen die Halswirbelsäule enorm. Für alle, die einer sitzenden Tätigkeit nachgehen, empfehle ich einen höhenverstellbaren Schreibtisch oder wenigstens die Sitzposition immer wieder mal zu ändern.

Es heißt ja immer, man soll Bewegung in den Alltag integrieren. Also besser Treppen steigen als Aufzug fahren oder mit dem Fahrrad als mit der U-Bahn zur Arbeit. Richtig oder falsch?

Mit Verallgemeinerungen wäre ich vorsichtig. Natürlich ist Bewegung grundsätzlich wichtig. Im Idealfall sind es über den Tag verteilt verschiedene Bewegungen und nicht immer dieselben. Wer Knieprobleme hat, hält das Treppensteigen nicht lange durch. Fahrradfahren indes hat keine direkte Fehlansteuerung der Kniegelenke zur Folge, wie es oft beim Treppensteigen oder Joggen passiert, sondern es handelt sich hier um eine fließende Bewegung, die das Kniegelenk perfekt unterstützt und zu einer Neubildung der Gelenkschmiere führt. Fahrradfahren ist tatsächlich für fast jeden zu empfehlen.

Und Joggen. Gut oder nicht?

Joggen ist bei einer orthopädischen Indikation nicht zu empfehlen, egal, ob es sich um ein Rücken-, Hüft- oder Knieprobleme handelt. Denn durch die permanente Fehlansteuerung der Gelenke und der Sehnen verbunden durch eine schlagartig einwirkende Belastung der Gelenke führt es zu einer weiteren Verschlimmerung der Indikation oder zu neuen Problemen.

Damit sind wir wieder beim Thema Fehlhaltung.

Das ist der Punkt. Wir wollen die Menschen wieder zurückbringen zu einer Körperlichkeit, die ihren Wünschen entspricht. Der eine will joggen, der andere reiten, der dritte will wieder Tennis spielen. Dafür muss ich mir aber sicher sein, dass er das, was er bei mir gelernt hat, Teil seines eigenen Fitnessprogramms geworden ist. Dann kann nichts mehr schiefgehen.

Bunte Gesundheit Spezial 4/2024

FAZ Schwerpunkt Gesundheit 6/25